Donnerberg        Non-SF      Home

   Donnergebirge. Wie oft hatte Anna schon einen Ausflug dorthin machen wollen. Schliesslich war es doch gar nicht so weit von Horsdorp an der Wuemme entfernt. Haeufig hatte sie davon getraeumt, wenn sie allein hinter dem Tresen des Roten Ochsen stand, jemanden zu finden, der mit ihr die bewaldeten sanften Huegel erklomm, sich mit ihr im Fruehling an Anemonen, Schluesselblumen und Primeln erfreute, mit ihr im Herbst Pilze suchte und Blaubeeren pflueckte, dem Keckern der Eichelhaeher lauschte, waehrend sie den Wald durchstreiften. Und nun sass sie in Ottos kleinem Ford und fuhr mit ihm die steile Serpentine zur Sternwarte hoch, die sich auf dem 2300 m hohen Donnerberg befand. Das war es nicht, was sie gewollt hatte. Es war alles so schnell gekommen. Monatelang war sie einmal in der Woche an ihrem freien Tag in Ottos Bus geklettert und hatte sich von ihm nach Duenkelskirchen fahren lassen, um dort an der Volkshochschule Englisch zu lernen. Dabei hatte sie stets hinter Otto auf der ersten Bank gesessen und waehrend der Fahrt das Verbotsschild ‘Bitte nicht den Fahrer stoeren!’ missachtet. Und nun dies. Sie hatte sich so an Otto gewoehnt, dass sie seine Einladung, mit ihr zur Sternwarte zu fahren, ohne Zoegern angenommen hatte.
  "Anna, Sternwarten werden grundsaetzlich hoch oben auf einem Berg errichtet, damit sie erstens nicht dem Streulicht der Staedte ausgesetzt sind und zweitens atmosphaerische Turbulenzen vermeiden. Aber selbst das reicht nicht aus. Deswegen werden die grossen Spiegel mit adaptiver Optik…."
  "Fahre bitte nicht so schnell! Bei mir dreht sich schon alles im Kreis!"
  "Ich moechte oben ankommen, bevor es ganz dunkel wird; dann faengt naemlich fuer die Astronomen die Arbeit an und wir kommen nicht mehr rein, und wir haben erst knapp die Haelfte der Strecke geschafft." Doch Otto nahm den Fuss etwas vom Gas.
  Schweigend starrten sie nach vorn, auf die schroffen Felswaende zur Linken, auf die schmale asphaltierte Strasse vor ihnen, auf die Leere zur Rechten. Dort gab es kein Schutzgelaender, das einen unaufmerksamen Fahrer von einem Sturz in die Tiefe haette abhalten koennen.
  Der Wagen wurde noch langsamer.
  "So langsam brauchst du nun auch wieder nicht zu fahren."
  "Anna, das bin nicht ich. Das ist der Wagen. Irgend etwas stimmt da nicht."
  Der Motor fing an zu stottern. Stockend quaelte sich das Fahrzeug die Serpentine hoch. Vor ihnen tauchte eine in den Fels gehauene Haltebucht auf. Otto lenkte das Gefaehrt auf den Platz, hielt an und schaltete den Motor aus.
  "Das kann ja heiter werden," brummte Otto und blickte Anna an.
  "Was machen wir nun?"
  "Wir warten. Vielleicht hat sich Motor ueberhitzt. Die Instrumente haben zwar nichts angezeigrt, aber was heisst das schon? In zehn Minuten versuchen wir weiterzufahren."
  Nach zehn Minuten versuchte Otto das Auto wieder in Gang zu setzen. Ohne Erfolg: der Motor sprang nicht an.
  "Muss die Elektronik sein. Es ist zu dunkel, als dass ich etwas erkennen koennte. Mal sehen, ob es hier eine Sprechanlage gibt."
  Otto stieg aus dem Wagen und sah sich um.
  "Nichts. Ich schlage vor, wir gehen zu Fuss weiter, oder willst du die Nacht im Wagen verbringen? Es kann ziemlich kalt werden."
  Anna kletterte aus dem Fahrzeug und zog froestelnd ihre Strickjacke zusammen. Schweigend machten sie sich auf den Weg.
  Die schmale Sichel des Mondes schob sich ueber den Grat und tauchte die sich den Berg hinaufwindende Strasse in sein diffuses Licht. Dunkel und geisterhaft hoben sich zerklueftete, schroffe Felsen gegen den Sternenhimmel ab.
  Otto schritt zuegig aus. "Ist dieser Himmel nicht herrlich? Sieh mal. Hier haben wir den…"
  "Keine Sternbilder, Otto! Ich bin dafuer nicht in Stimmung. Wie lange dauert es denn noch?"
  "Keine Sorge. Bald haben wir es geschafft. Uebrigens, wenn wir den Abhang rechts von der Strasse hinunterstuerzten, wuerden wir zur gleichen Zeit unten ankommen. Dass wir unterschiedlich wiegen, spielt dabei ueberhaupt keine Rolle. Galilei war der erste, der das experimentell belegt hatte. Daraufhin hatte Isaac Newton…."
  "Hoer schon auf. Ich will das nicht mehr hoeren."
  Anna lehnte sich erschoepft gegen die Felswand. Ihr war zum Heulen zumute.
  Otto drehte sich um, ging zu ihr zurueck und legte einen Arm um ihre Schulter.
  "Entschuldige bitte. Ich wollte dich etwas ablenken. Nur Mut, wenn wir jetzt noch einmal um den Berg gehen, dann sind wir da."
  Otto hakte Anna unter und verlangsamte sein Tempo. Stumm gingen sie die letzten wenigen hundert Meter um den Berg herum, dann tauchte ploetzlich vor ihnen, wie ein steinernes Ungetuem aus einer anderen Welt, die riesige Kuppel der Sternwarte auf. Otto hielt an und holte tief Luft.
  "Geschafft. Suchen wir den Eingang."
  Langsam naeherten sie sich dem Kuppelgebaeude. Ihre beiden Figuren schienen winzig im Vergleich zum kolossalen Monument, welches der Menschheit mit vielen anderen hochgelegenen Observatorien einen Blick in den Kosmos erlaubte. Eine roetliche Lampe leuchtete an einer Wand des Gebaeudes.
  "Dort muss es sein." Otto zog Anna mit sich. Die grosse Stahltuer war verschlossen. Otto drueckte auf den Klingelknopf unter der Sprechanlage. Nichts ruehrte sich. Otto und Anna blieben vor der Tuer stehen und versuchten es noch einmal. Keine Reaktion.
  Ploetzlich erschuetterte ein gewaltiges Droehnen den Bau. Es kam vom Dach der Sternwarte. Es schien Anna, der Gigant ueber ihr sei ploetzlich zu Leben erwacht, und sie spuerte, wie die Wand des Gebaeudes vibrierte. Aengstlich klammerte sie sich an Otto.
  "Keine Angst, Anna. Ueber uns dreht sich die Kuppel. Sie richten das Teleskop neu aus. Nachts laeuft ein Computerprogramm, welches in vorgegebenen Zeitabstaenden Kuppel und Teleskop neu einstellt."
  Otto bemerkte ein paar Meter neben der Eingangstuer ein Rost, welches im Boden eingelassen war, und er ging dorthin. Warmluft stroemte heraus. Er winkte Anna heran. Sie setzten sich beide auf den Boden. Otto zog seine Jacke aus und legte sie um Annas Schultern. Sie laechelte gequaelt. Die Warmluft umhuellte beide wie ein Schleier, machte sie muede und bald darauf lagen sie auf dem Boden und schliefen. Bisweilen rumpelte es, wenn die Kuppel sich drehte; dann schreckte Anna hoch, oeffnete die Augen, blickte auf die funkelnden Sterne. Sie waren so weit entfernt, so losgeloest vom grauen und zugleich hektischen Alltag auf der Erde. Ruhe und Frieden waren die Woerter, die ihr einfielen, als sie zum breiten Band der Milchstrasse emporblickte. Die Sterne schienen sie zu fragen: Warum hast du uns nicht schon frueher betrachtet? Warum hast du deine Sorgen nicht schon eher in den Kosmos geschickt? Ohne diese findest du eher eine Antwort auf deine Fragen. Wir sind immer hier, wenn du uns brauchst.
  Anna drehte sich auf die Seite und blickte zu Otto hinueber. Er sah so unschuldig aus, wenn er schlief. Anna laechelte. Nun, er sah auch nicht anders aus, wenn er wach war. Es war doch eigenartig, dass sie gerade mit ihm diese seltsamen Dinge erlebte. Anna hatte sich noch nie so gelassen gefuehlt, wie in diesem Augenblick.

  Sie wachte auf, als sie Stimmen vernahm, sah, dass der Morgen graute. Einige Maenner kamen aus dem Eingang und gingen auf einen Parkplatz zu. Sie diskutierten erregt. Anna hoerte Worte wie ‘Kosmisches Messageboard’ und ‘rueckwaertslaufender Counter’. Sie ruettelte Otto aus dem Schlaf. Otto richtete sich auf, rieb sich die Augen, erhob sich und sah zum Eingang. Die Tuer war halb geoeffnet.
  "Die machen Feierabend. Komm wir gehen hinein."
  Ohne das riesige Spiegelteleskop im Kuppelbau eines Blickes zu wuerdigen, liefen sie auf die gegenueberliegende Wand der Sternwarte zu. Dort war ein Buero. Es glich einem angeklebten Schwalbennest. Otto riss die Tuer auf.
  "Professor Zimmermann, Gott sei Dank, dass Sie noch da sind."
  Der Mann im Hintergrund sah von dem Bildschirm hoch.
  "Otto, ich hatte Sie gestern erwartet, doch nicht heute so frueh am morgen."
  "Anna, das ist Professor Zimmermann, der Leiter der Sternwarte. Er haelt auch den Astronomiekurs an der Volkshochschule in Duenkelskirchen ab." Dann begann Otto, von ihrem Abenteuer zu erzaehlen.
  Zimmermann schenkte Kaffee nach. "Anna, ich wuenschte, wir haetten uns unter guenstigeren Umstaenden kennengelernt. Ich haette Ihnen so gern unser Observatorium gezeigt, aber ich muss jetzt Schluss machen. Kommen Sie, ich nehme Sie beide mit und fahre Sie ins Dorf."
  Zimmermann schaltete seinen Computer aus und zog seine Jacke ueber.

  Wehmuetig blickte Otto zu seinem Ford hinueber, als sie an der Haltebucht vorbeikamen.
  "Ihr Wagen, Otto? Vielleicht haetten Sie besser Ihren Bus genommen," lachte Zimmermann.
  "Warum waren die Leute heute morgen so erregt, als sie die Sternwarte verliessen?" fragte Anna.
"Ich hoerte Worte wie ‘Kosmisches Messageboard’ und ‘rueckwaertslaufender Counter’."
  Zimmermann schwieg eine Weile, dann schuettelte er den Kopf, als ob er sich aus einer Trance befreien wollte.
  "Wir sind alle schrecklich aufgeregt. Die Programme unserer Sternwarte am Donnerberg laufen in Zusammenarbeit mit Observatorien in aller Welt. Zur Zeit sind wir auf der Suche nach Planeten, die um andere Sterne kreisen. Sterne mit Planeten wackeln, wenn Planeten um sie herumziehen. Man kann das anhand ihrer Spektralverschiebung erkennen. Andere Sternwarten observieren Pulsare, also sich schnell drehende Neutronensternen, die Impulse im Sekundenbereich aussenden."
  Zimmermann hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er fort: "Nun glauben einige von uns anhand von Computeranalysen herausgefunden zu haben, dass die Signale, die von den Sternen aus bestimmten Zonen kommen, Muster aufweisen, die auf eine Abstimmung der Signale hindeuten. - Kein Wunder, dass wir aufgeregt sind. Das kann unsere Kosmologie ueber den Haufen werfen."
  "Donnerwetter. Das hoert sich ja wie Science Fiction an, Professor Zimmermann," meinte Otto erregt. "Werden Sie darueber in Ihrem Astronomiekurs berichten?"
  "Solange die Messergebnisse nicht in einer der Wissenschaftszeitschriften wie ‘Nature’ oder ‘Science’ veroeffentlicht worden sind, natuerlich nicht. Hier ist der Rote Ochse, meine Herrschaften. Ich glaube, ich lade Sie hier ab, wenn es recht ist."
  Zimmermann hielt seinen Wagen vor dem Gasthof an. Anna und Otto stiegen aus, verabschiedeten sich von dem Professor und sahen sich schweigend an. Dann laechelte Anna und hakte Otto unter.
  "Komm Otto, fahren wir zu mir nach Hause. Ich glaube, eine warme Dusche wird uns gut tun."

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