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  Sie standen sich in dem kleinen Vernehmungsraum gegenueber und starrten sich an: Dr. Mueller-Schmidt, Frauenmoerder und Dr. Schwarzhahn, Pflichtverteidigerin. Ein lauernder Ausdruck stahl sich in seine Augen, als die Frau den Blick nervoes von ihm abwandte.
  "Nehmen Sie Platz, Dr. Mueller."
  Fraeulein Dr. Schwarzhahn setzte sich ihm gegenueber und blickte auf ihre Unterlagen. Muellers gedrungene, muskuloese Gestalt, seine animalische Praesenz loeste eine Kaskade von Gefuehlen in ihr aus, die sie vergeblich zu unterdruecken versuchte. Erleichtert hatte sie festgestellt, dass seine Arme in Handschellen steckten.
  "Dr. Mueller, als Ihr Verteidiger moechte ich Ihnen einige Fragen stellen. Wie ist Ihre Kindheit verlaufen?"
  "Was geht Sie das an, Fraeulein?" Mueller-Schmidt erhob sich und kam um den Tisch herum.
  "Ich brauche keinen Verteidiger." Er stellte sich dicht an ihren Stuhl und ging in die Hocke. Sein Atem streifte ihren Nacken.
  "Wollen Sie wissen, ob ich einen Saeufer als Vater, eine Nutte als Mutter, eine lesbische Tochter und einen schwulen Sohn habe? Wollen Sie das wissen?" Sein Gesicht naeherte sich dem ihrem. Ihr Gesicht roetete sich. Verstoert sprang sie auf und rannte zur Tuer.
  "Rennen Sie, rennen Sie, so weit Sie koennen, und suchen Sie sich einen neuen Beruf."
  Er ging langsam auf sie zu und draengte sie gegen das Metall der Tuer. "Rufen Sie schon. Rufen Sie ‘Wache’, damit Ihnen geoeffnet wird."
  Ihr wurde schwach in den Knien. Als sie zu ihm emporsah, schien sein Gesicht auseinanderzulaufen, weit geoeffnete Pupillen tanzten wie dunkle Kreise vor ihren Augen.
  "Wache!" Kaum hoerbar brach es aus ihr hervor.
  "Nochmal!", keuchte er und drueckte sich noch enger an sie.
  "Wache!" Ihre Stimme kippte in Schluchzen um.
  "WACHE!" bruellte er und liess von ihr ab. Die Tuer oeffnete sich, und Fraeulein Dr. Schwarzhahn wankte benommen in den Gang.
 
"Ihre Unterlagen, Fraeulein!" Mueller-Schmidt stiess ihr mit dem Fuss den Aktenkoffer hinterher.

   Der Saal des Landgerichtes war brechend voll. Ein Polizist verschloss die Eingangstuer.
  "Dr. Mueller-Schmidt, Sie haben es vorgezogen, sich selbst zu verteidigen. Was haben Sie vorzubringen?"
  Richter Duennbiers Stimme klang leidenschaftslos. Nuechtern blickte er auf Mueller-Schmidt, der wie eine gespannte Feder auf der Anklagebank sass.
  "Herr Richter. Ich gebe zu, die Morde begangen zu haben, stelle jedoch gleichzeitig fest, dass ich unschuldig bin und nicht fuer meine Taten verantwortlich gemacht werden kann."
  "Was heisst denn das, Doktor?" Duennbier beugte sich etwas vor. "Sind Sie der Ansicht, sie seien unzurechnungsfaehig?"
  "So wie wir alle, Herr Richter. Ich verweise auf die letzten Arbeiten der neurologischen Institute, aus denen hervorgeht, dass mein Gehirn die Taten geplant hatte, ohne mein Bewusstsein darueber zu informieren. Die Vorbereitungen fuer die Morde wurden ohne mein Zutun getroffen, ich konnte sie nur noch ausfuehren oder die Ausfuehrung ablehnen. Das habe ich nicht geschafft. Was kann ich dafuer, dass die Hemmschwelle bei mir so tief haengt?"
  Staatsanwalt Droege lief rot an und rief wutentbrannt. "Voellig absurd, was der Mann sagt! So eine fadenscheinige Ausflucht ist mir noch nicht untergekommen!"
  Zuschauer murmelten. Duennbier lehnte sich zurueck, sagte eine Weile nichts und schloss die Augen, dann gab er sich einen Ruck.
 
"Das ist ja interessant, Dr. Mueller-Schmidt. Wenn ich nicht ein Spiegel-Interview gelesen haette, welches Ihre Aussage zum Inhalt hat, wuerde ich denken: Der Mann spinnt." Duennbier schloss die Akte: "Die Sitzung wird vertagt. Es wird ein Gutachter hinzugezogen. Fuehren Sie den Mann ab. Der naechste Fall."

  "Professor Dietrich, was ist nun dran an der Aussage Dr. Mueller-Schmidts, dass er fuer seine Taten nicht verantwortlich gemacht werden koenne?"
  "Herr Richter. Er hat Recht, wenn er behauptet, dass die Macht des Willens eingeschraenkt ist. Jemand hat es so formuliert: ‘Menschen tun nicht, wass sie wollen, sondern sie wollen, was sie tun'. Das heisst, erst in dem Moment, in dem sie die Handlung durchfuehren, wollen sie das auch."
  Duennbiers Stimme wurde noch ruhiger. Fuer Eingeweihte ein Zeichen, dass die Lage voellig verfahren war.
  "Professor, woher kommt denn das Gefuehl, dass wir frei entscheiden koennen?"
  "Durch den sozialen Austausch mit anderen Personen. Erst durch Kommunikation erfaehrt ein Kind zum Beispiel, dass es vermeintlichen freien Gestaltungsspielraum hat."
  "Der aber in Wirklichkeit gar nicht gegeben ist, wenn ich es richtig verstehe."
  "Genau, Herr Richter. Das Gehirn plant schon vor, ohne das Bewusstsein zu informieren. Ob zum Beispiel ein Mord zur Ausfuehrung gelangt, kann nur durch eine hoch genug angesetzte Hemm-schwelle abgefangen werden."
  "Vielen Dank, Herr Professor. Herr Staatsanwalt?"
  Staatsanwalt Droege machte aus seiner Irritation keinen Hehl. "Die Vorstellung, dass Dr. Mueller-Schmidt nicht schuldfaehig sei, ist absurd. Dann ist es keiner mehr, der ein Verbrechen begeht. Das System von Schuld und Suehne wird auf diese Weise mit Fuessen getreten. Ich beantrage Lebenslaenglich."
  Duennbier machte es kurz.
  "Herr Dr. Mueller-Schmidt. Sie werden freigesprochen, da Sie fuer Ihre Taten nicht zur Verantwor-tung herangezogen werden koennen. Die Kosten traegt die Staatskasse."
  Duennbier beugte sich weit ueber die Bank, als er sah, wie sich Mueller-Schmidt entspannt zuruecklehnte.
 
"Dr. Mueller-Schmidt. Denken Sie ja nicht, dass Sie nun weiter morden koennen. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Ich werde Sie unter Beobachtung stellen lassen, und mir wird noch etwas einfallen, Ihrer habhaft zu werden."

  Lisa Schwarzhahn empfand die naechsten Tage wie einen fortgesetzten Alptraum. Nichts war mehr so wie frueher. Der Prozess Mueller-Schmidt und seine moeglichen Folgen wurde ausfuehrlich in den Medien behandelt. Wuerden Verbrechen auch weiterhin als solche angesehen, oder als genetische, nicht strafwuerdige Entgleisungen? Was wuerde aus dem Beruf des Verteidigers, aus der Strafjustiz ueberhaupt?
  Als sie in ihrer Wohnung eintraf, schaltete sie den Fernseher ein und lauschte gleichzeitig den Meldungen ihres Anrufbeantworters.
  Tagesschau: "Der Fall Mueller-Schmidt wurde vor dem Bundesgerichtshof im Eilverfahren behandelt."
  Anrufbeantworter: "Fraeulein, hier ist Mueller-Schmidt. Wie geht es Ihnen?"
  Sie erstarrte vor Schreck, reflexartig schaltete sie das Geraet ab.
  "Das Urteil des Landgerichts wurde vom Bundesgerichtshof bestaetigt. Desweiteren wurde jede Verhaftung untersagt, und den politisch Verantwortlichen empfohlen, fuer die neuen Erkenntnisse eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, bevor alle frueher als kriminell bezeichneten Inhaftierten freikommen."
  Lisa schaltete den Fernseher aus und liess sich in einen Sessel fallen. Das wars. Sie musste sich einen neuen Job suchen. Automatisch langte sie zum Anrufbeantworter.
  "Fraeulein, hier ist Mueller-Schmidt. Wie geht es Ihnen? Ich habe die ganze Zeit an Sie gedacht. Ich glaube, Sie moegen mich. Wie kommt das? Wieso moegen Sie einen Frauenmoerder? Doch, Sie moegen mich. Ich habe es gespuert. Ich hatte Sie in den Arm nehmen wollen, doch ich konnte nicht. Die elendigen Handschellen! Und dann…. Wollen Sie sich mit mir treffen? Ich bin heute abend um neun im Park beim Planetarium. Doch wir muessen vorsichtig sein. Ich werde beobachtet. Bis dann, Fraeulein. Ich sehne mich nach Ihnen."
 
Lisa starrte benommen vor sich hin. Eine Nacht mit Mueller-Schmidt, dem Frauenmoerder. Danach brauchte sie sich auch nicht mehr um einen neuen Job zu bemuehen.

  So schnell hatte ein Parlament noch nie ein Gesetz entworfen, durch die Kammern gejagt und verabschiedet. Wie konnte es auch anders, wenn die Bildzeitung jeden Tag schrieb: ‘Regierung unfaehig! Moerder und Sittenstrolche laufen frei herum! Pass auf Eure Kinder auf!’
  Verhaftungen wurden in Verwahrungsmassnahmen, Gefaengnisse in Verwahranstalten umgetauft und den Neurologischen Instituten der oertlichen Universitaeten unterstellt.

  "Ah, da sind Sie wieder, Doktor Mueller-Schmidt." Richter Duennbier blickte leidenschaftslos auf den Mann auf der Anklagebank.
  "Machen wir es kurz. Sie haben uns reingelegt. Fraeulein Dr. Schwarzhahn ist ihr letztes Opfer und wird es bleiben. Ich verurteile sie wegen des begangenen Mordes an ihr zu Lebenslaenglich in der Verwahranstalt. Sie sind und bleiben eine Gefahr fuer die Menschheit und werden die Aussenwelt daher nicht wiedersehen. - Wie finden Sie sie uebrigens, unsere Verwahranstalt? Auf den ersten Blick hat sich nicht viel geaendert, nicht wahr?"
  Duennbiers Augen funkelten. "Dann hat Ihnen sicher noch niemand gesagt, dass die Neurologischen Institute ihre Affen in die Zoos entlassen haben. Sie haben jetzt besseres Material, und, aber das muessten Sie ja am besten wissen, Doktor Mueller-Schmidt, die Experimentatoren sind fuer ihre Handlungen nicht verantwortlich.
- Abfuehren!"  

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