Motorengebrumm. Dann war es so still wie
vorher, und ich schreckte aus meinem Halbschlaf hoch.
"Marta." Ich versuchte
meine Stimme zu dämpfen. "Neue Nachbarn." Meine Frau setzte sich zu
mir auf die Terrasse.
"Gerade noch rechtzeitig zum
Wettbewerb." Eine Fliege schwamm in meinem Bier.
"Ich werde nachher etwas von
meinem Selbstgebackenem vorbeibringen." Vergeblich versuchten unsere Blicke
das ungeordnete Laubwerk der Hecke zu durchdringen, die auf der Nachbarparzelle
außer Kontrolle geraten war.
Marta besaß die Gabe,
Neuankömmlinge sofort heimisch werden zu lassen. Sie hatte auch mich
verzaubert, vor vierzig Jahren, mit ihrem Gesicht, das einem offenen Fenster
glich, in das jeder hineinsehen konnte. Selten war es verschlossen, so wie an
diesem Nachmittag, als sie mit dem leeren Kuchenteller zurück kam.
"Ich hab ein ungutes
Gefühl", sagte sie und verschwand in der Laube.
Erich Strenger war ein
vierschrötiger Enddreißiger mit rosigem Gesicht und fahlblauen Augen. Eisig,
wie ein nicht gestreuter Gemeinschaftsweg. Sein Lächeln konnte nicht darüber
hinweg täuschen, dass Hilde, seine zarte Frau, unter ihm litt. Oft hörten wir
ihn hinter der Hecke brüllen, auch zwischen ein und drei Uhr, wo laut
Vereinssatzung absolute Stille zu herrschen hat.
Der Wettbewerb der Kleingärtner rückte näher. Ulrich, unser
Vorsitzender, bat den Erich, seine Hecke zu verkürzen.
"Ich scheiß auf den
Wettbewerb!". Ein Gartenfreund? Marta und ich sahen uns erschrocken an. Wie
sollten wir dann den ‘Goldenen Spaten’ nach Wandsbek holen?
Der April öffnete seine Schleusen.
Marta und ich nutzten jede trockene Stunde. Pflanzten Kohl, säten
Gewürzkräuter und setzten Kartoffeln. Der Wettbewerb ging vorüber. Die
Erkenntnis blieb: Wir haben es nicht geschafft. Erich hatte sich nicht umstimmen
lassen. Er verlängerte das Laubendach über der Terrasse und rief damit Ulrich
auf den Plan.
"Erich, das ist eine Typenlaube. Die darfst du nicht verändern." Die
Antwort Strengers ging im Gehämmer unter. Marta schüttelte den Kopf. Ich
verstand sie nur zu gut. Jeder Gartenfreund sollte die Fachliche Weisung BOA
5/75 verinnerlicht haben, in der die Vorschriften des Bauordnungs- sowie des
Garten- und Friedhofsamtes niedergelegt sind. - Dann kam der Tanz in den Mai.
Marta und ich waren mit den
Gartenfreunden Urban und Lichtwark im Gemeinschaftshaus und hängten Lampions
unter die Decke.
"Gerd", frotzelte Marta.
"Hast du dir schon eine ausgeguckt?" Die dunklen Augen im hageren
Gesicht des langen Kassierers glichen denen eines Kalbs, als ihm die Röte bis
in die Haarwurzeln schoss. Ich ahnte den Grund. Gerd hatte seine Parzelle
schräg gegenüber. In letzter Zeit brachte er seinen Müll mehrere Male am Tag
zum Ascheimerplatz, wobei er an Strengers Hecke vorbei kam.
Seine Frau war unerwartet vor einem Jahr gestorben. Gartenfreund Dr. Petersen,
konnte nur noch den Totenschein ausstellen und Hans Lüttke, als
Bestattungsunternehmer unserem Verein verbunden, trug Gerd die Urne mit den
sterblichen Überresten seiner Frau in die Laube. Etwas außerhalb der
Legalität. Aber wozu sind Gartenfreunde da? – Nun sah es so aus, als hätte
unser Kassierer erneut Feuer gefangen. Seine Verstorbene, eine Xanthippe, hatte
sich nicht in unsere Gemeinschaft einfügen wollen.
Es hätte so harmonisch sein können. Während die ‘Blue Boys’ für Stimmung
sorgten, wir die Lieder Roy Blacks, Howard Carpendales und Peter Orloffs
mitsangen, randalierte Erich Strenger an der Bar. Mir war es peinlich zu
beobachten, wie seine Frau mit hochrotem Kopf zu uns herübersah. Gerd Urban
rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er traut sich nicht, dachte ich.
"Ich forder Frau Strenger auf", sagte ich zu Marta. "Tanz
du mit dem Gerd." Auf der Tanzfläche klatschte ich Marta ab, während Gerd
mit Frau Strenger weitertanzte, die sich ängstlich nach ihrem Mann umblickte.
Im Garten hört die Arbeit nie auf.
Im Mai säten Marta und ich Bartnelken, Tausendschön, Marienglockenblumen. Von
Strengers Parzelle kam kein Laut, und wir hörten, er sei auf Geschäftsreise.
Hilde besuchte jeden unserer Vortragsabende und trug, wann immer wir sie sahen,
unser Vereins-T-Shirt. Sie sah bezaubernd darin aus. Die dunkle Schrift ‘Der
Gartenfreund’ hob sich vorteilhaft vom Weiß des Hemdes ab, das mit der
Blässe ihres Gesichtes harmonierte. Wenn es nur nicht so traurig wäre...
Der Juni belohnte uns mit Erbsen, Möhren, Kopfsalat und der
Jahreshauptversammlung. Zu unserer Überraschung war auch Erich Strenger mit
seiner Frau Hilde gekommen und setzte sich in die letzte Reihe.
Bei der Eröffnung der Versammlung,
Verlesung und Genehmigung der Niederschriften der Jahreshauptversammlung des
Vorjahres fiel Strenger der Kopf auf die Brust, während sich seine Frau Notizen
machte. Als Vorstand und Gartenobmann ihre Berichte vortrugen, schreckte
Strenger aus seinem Schlaf. Dann kam die Aussprache, und er nickte wieder ein.
Hilde legte ihren Schreibblock zur Seite. Ihr Blick hing an den Lippen unseres
Kassierers, der seinen Bericht vorlegte. Es folgten der Bericht der Revisoren
und die Aussprache über Kassen- und Revisionsbericht, die Entlastung des
Kassierers. Der Obmann vom Lichtausschuss, sowie unser Jugendgruppenleiter
mussten ihren Vortrag durch Strengers Schnarchen hindurch bringen. Und als es um
die Neuwahl des Gesamtvorstandes ging, ließen wir Hildes Mann schlafen.
Im Juli war Haupterntezeit. Nach ein
paar Tagen tat mir der Rücken weh. Das Vereinsfest war eine willkommene
Abwechslung. Wir hatten Gartenfreunde der Nachbarvereine zu Gast. Die Kleinen
fuhren mit Feuerwehr und Straßenbahn des Karussells, während wir Erwachsenen
auf der Wiese hinter unseren Gärten standen und der Liedertafel ‘Eintracht
Bramfeld v. 1813’ sowie dem Kinderorchester der Musikschule ‘Kaiser’
zuhörten. Dann trat der Spielmannszug ‘Diekmoor’ zum Platzkonzert an. Gerd
Urban lief nervös zwischen den Ständen umher.
"Was ist?," fragte Marta
ihn, als er bei uns vorbei kam.
"Ich sehe den Strenger
nicht." ‘Strenger’ sagte er und meinte dessen Frau. Ich löffelte eine
Terrine Erbsensuppe aus der Gulaschkanone des THW. Dann sahen wir ihn. Strenger
zog seine Frau hinter sich her. Ihr Gesicht war geschwollen. Veilchen.
Für uns alle war es demütigend
anzusehen, wie Strenger den Gerd Urban packte und in die Gulaschkanone setzte,
während Gartenfreunde um Nachschlag anstanden.
"Sieh du noch mal über die
Hecke zu meiner Frau rüber!", brüllte er und zog wieder ab.
Im August topften wir Alpenveilchen
um. Tomaten und Gurken mussten geerntet werden. Dann düngten wir den Rhabarber,
damit er Kräfte für die nächste Ernte sammelte. Ich öffnete den Schrank, aus
dem mir die Helfer der Gartenfreunde Nitrophosphat, Metasystox, Unden, E605
Forte entgegensahen.
September: Während Marta und ich
Zwiebeln ausgruben, kam klagendes Geschrei von nebenan. Hilde, dachte ich und
lief hinüber. Dann stürzten Ulrich, Gerd und Dr. Petersen herbei.
"Mein Mann!", schrie die
Frau. "So helft mir doch!" Erich Strenger wand sich in Krämpfen auf
der Terrasse. Bläulichfahl sein Gesicht, Schaum hing vor seinem Mund, und dann
schrie auch er. So wie Gerd Urbans Frau geschrien hatte. Ich sah auf die Uhr.
Dreizehn Uhr dreißig. Mittagsruhe. Ich steckte Strenger ein Taschentuch in den
Mund. So starb er. ‘Herzversagen’ stand später auf dem Totenschein. Hans
Lüttke kam einige Tage danach mit der Urne vorbei. Es sei etwas außer der
Legalität, meinte er zu uns, aber das sei das Mindeste, was er tun könne.
Die Tage wurden kürzer. Oktober,
November, Dezember kamen, regelmäßig wie eine Jahreshauptversammlung. In
unserem Verein war Ruhe eingekehrt, Strengers Hecke auf ein Meter sechzig
gestutzt, die Anbauten von seiner Laube entfernt, und Hilde erholte sich von
ihrem Schock.
Ich machte mich daran, den Garten
umzugraben. Gerd Urban ging Hilde zur Hand, half ihr, den Garten für den Winter
herzurichten und Sellerie, Rettiche in Kisten einzuschlagen. Dann schneite,
taute und fror es im Wechsel.
Die Luft war klar, der Mond warf sein silbernes Netz über unsere Gärten, als
Marta und ich unseren Abendspaziergang durch die Anlage machten. Hilde stand vor
ihrer Parzelle und grüßte mit einem stummen Lächeln. Sie hielt etwas in ihrem
Arm, tauchte ihre Hand hinein, zog sie wieder heraus und machte eine weit
ausholende Bewegung. Erichs Asche, dachte ich. Dann sahen wir, wie Gerd Urban in
seine Laube lief, mit der Urne seiner Frau hervorkam, um sich ebenfalls von der
Vergangenheit zu lösen.
Ich legte meinen Arm um Martas
Taille, gab ihr einen Kuss und dachte, dass wir nicht auf den nächsten Tanz in
den Mai zu warten brauchten, bis die Gartenfreunde Hilde und Gerd zueinander
finden würden.
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