LAUTE
MUSIK:
Kein Grund für Hörschäden ?
Bei jedem vierten Jugendlichen sei das
Gehör durch überlaute Musik beeinträchtigt, schrieb das
Umweltbundesamt in einer Pressemitteilung bereits 1997.
Goldene Zeiten für die Hersteller von Hörgeräten: Denn
nach und nach müssten diese Hörgeschädigten wohl einsehen, dass
sie unwiderruflich auf ein Hörgerät angewiesen sind - eine
These, die vielleicht sogar die Entwicklung von Hörhilfen
vorangetrieben hat. Andere
Erkenntnisse gewann der Hörforscher Dr. Eckhard Hoffmann im
Rahmen seiner Untersuchungen.
Die
vom Umweltbundesamt seinerzeit in die Welt gesetzte Behauptung ist
oft wiederholt, selten aber hinterfragt oder gar wissenschaftlich
überprüft worden. Dr.
Eckhard Hoffmann von der Universität Ulm ist in den vergangenen
Jahren der Frage nachgegangen, wo denn nun wirklich die Ursachen für
Hörschäden liegen. Seine
Ergebnisse revidieren etablierte, vielleicht sogar schon lieb
gewonnene Ansichten, und sie werden gestützt durch Beobachtungen,
die Kollegen aus der Hörforschung in den letzten Jahren und
Jahrzehnten in aller Welt gesammelt haben.
Aktuelle
Ergebnisse
Untersucht
hat Hoffmann in den Jahren 1995 bis 2000 insgesamt 1.5io deutsche
Männer im Alter von i8 bis 25 Jahren.
Die Hörschwelle junger Erwachsener sollte im Hörtest bei
allen getesteten Frequenzen bei o dB HL (Hearing Loss) liegen.
Diese international genormte Null-Linie (ISO 389) wurde in
den 60er-Jahren per Konvention so festgelegt, dass sie der Hörschwelle
von HNO-ärztlich unauffälligen und nicht durch Schall belasteten
jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 Jahren entspricht.
Bei
allen Probanden wurde die Hörschwelle unter guten Messbedingungen
bestimmt, ihre Schallbelastung in Beruf und Freizeit war
Gegenstand eines detaillierten Fragebogens.
Bei 25 % der Probanden zeigte sich im Frequenzbereich bis 8
kHz auf einem Ohr ein Hörverlust Von 2o dB oder mehr bei
mindestens einer Testfrequenz.
Hat ein Mensch im Alter von i8 bis 25 Jahren einen Hörverlust
in diesem Ausmaß, spricht man im Allgemeinen von einem Hörschaden.
Eine beginnende oder höhergradige Schwerhörigkeit
ermittelte Hoffmann bei 1,5 % der Probanden.
Disco-Gänger
Die
jungen Männer wurden detailliert nach ihren Gewohnheiten beim
Musik-Konsum befragt. Konkrete
Angaben waren auch zu den Disco-Besuchen erwünscht, hier wurden
die Probanden zur Häufigkeit, der durchschnittlichen Länge des
Aufenthalts und seit wie vielen Jahren die Probanden Discotheken
regelmäßig besuchen gefragt.
Insgesamt ergab sich: Jugendliche und junge Erwachsene
gehen in ihrer Freizeit gern und häufig in Discos.
Die diesbezüglichen Informationen aus dem Fragebogen
wurden aufgerechnet und als "DiscoStunden" in Relation
zur Hörfähigkeit gesetzt.
Um
nun die durch Disco-Aufenthalte verursachte Wirkung von Musik auf
die Hörfähigkeit zu ermitteln, wurden zwei Extrem-Gruppen
miteinander verglichen. Gegenübergestellt
wird in gemittelten Audiogrammen die Kurve von
"extremen" Disco-Gängern (194 Personen) im Vergleich zu
den "Musikmuffeln" (122 Personen), die weder Konzerte
noch Discos besuchten und auch keinen Walkman besitzen.
Die extremen Disco-Gänger dagegen hatten zum Zeitpunkt der
Untersuchung bereits mindestens i.5oo Stunden in Discos verbracht.
Sie sind die Probanden-Gruppe, die sich der höchsten
Schallbelastung durch Diskotheken ausgesetzt hat.
Viel
Disco = Großer Hörschaden?
Landläufig
wird diese These wohl durchaus vertreten.
Die Untersuchungsergebnisse von Hoffmann sind eine echte Überraschung,
denn sie zeigen, dass es sich hier tatsächlich um ein Vorurteil
handelt. Seine Studie
kommt zu ganz anderen Ergebnissen: Wäre Disco-Musik die
Hauptursache für die häufig auftretenden Hörschäden, so wäre
bei der Auswertung ein Hörschaden-Risiko zu erwarten, das
proportional zur Musikbelastung ansteigt.
Zu
beobachten ist jedoch das genaue Gegenteil.
Das relative Risiko eines Hörschadens, so die Studie, ist
bei moderaten Disco-Gängern deutlich geringer als beider Gruppe
der"Musikmuffel". So
war in der Gruppe mit einer Disco-Dosis von 1000 bis 1.500 Stunden
ein statistisch um 90 % geringeres Risiko für Hörschäden zu
beobachten als bei den "Musikmuffeln".
Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse verliert die
Diskussion über die Schädlichkeit von Discos ihre Bedeutung, im
Gegenteil: moderaten Disco-Besuchen muss sogar ein positiver
Effekt für das Hörvermögen und dessen Erhalt bescheinigt
werden.
Die
Disco als Fitness-Studio
für die Hörzellen
Das
menschliche Ohr ist nicht nur ein passiver Schallempfänger, schon
im Innenohr erfolgt auf der Ebene der Haarzellen (Hörsinneszellen)
eine aktive Schallverarbeitung. Bei einer länger dauernden, hohen Schallbelastung wird die
Empfindlichkeit des Ohres automatisch heruntergeregelt.
Dies führt zu dem bekannten Effekt des tauben Gefühls im
Ohr nach einem lauten Konzert. Die Funktionsweise der äußeren
Haarzellen liefert einen Erklärungsansatz für den zunächst überraschenden
Schutzeffekt von moderaten Disco-Besuchen.
Nach den vorliegenden Ergebnissen ist ein
"Trainingseffekt" der äußeren Haarzellen denkbar, so
dass diese nach regelmäßiger Stimulation durch Disco-Besuche den
Belastungen im Alltag besser gewachsen sind.
Die Disco wäre somit das Fitness-Studio für die äußeren
Hörzellen.
Die
Studie zeigt: Erst bei den Disco-Besuchern mit einer extrem hohen
Disco-Dosis (194 Personen) von mindestens 1.500 Stunden steigt das
Hörschaden-Risiko wieder deutlich an.
Dass vergleichsweise auch ein zu intensives Training in
einem Fitness-Studio nicht nur positive Effekte mit sich bringt,
ist inzwischen allgemein bekannt.
Offensichtlich
lässt sich dies auch auf das Gehör übertragen.
Wer sich in extremer Weise der Schallbelastung in einer
Disco aussetzt, riskiert eine Beeinträchtigung seiner Hörfähigkeit.
Laut Hoffmann kann die Musik dabei aber nicht zur
Hauptursache eines Hörschadens werden.
Der
Knall, die wirkliche Gefahr
Die
große Mehrheit der jungen Erwachsenen, die in moderater Form
Discos und Konzerte besuchen, haben keinen Hörschaden, der
nachweislich durch Musik bedingt ist.
Das pauschal gemeinte Schlagwort von der "deaf
Generation" ist daher nicht gerechtfertigt.
Ebenso wenig ist der Musikkonsum eine erstrangige Ursache für
Hörschäden bei dieser und bei allen anderen Altersgruppen.
Die
Schädigungen, die Hoffmann in seiner Studie beobachtete, waren überwiegend
einseitig auftretende Hochton-Senken und Hochtonverluste.
Ihre typische Charakteristik liefert einen Hinweis darauf,
dass es sich tatsächlich um lärmbedingte Hörschäden handelt -
nicht aber durch Musik verursacht: Denn ein typischer Konzert -
oder Disco-Besucher würde sich beidseitige Schädigungen
einhandeln. Einseitige
Hörschäden weisen auf Knalle als Ursache hin: Ein Ohr ist dem
Knall meist stärker zugewandt als das andere, das in diesem Fall
schon durch den Kopf teilweise vor der Schallwelle geschützt
wird.
Tatsächlich
berichteten die Hälfte aller Untersuchten von einem Knalltrauma
mit Ohrgeräuschen beziehungsweise einem tauben Gefühl im Ohr
nach einem lauten Knall. Verursacht
wurden die Knalle meist durch Silvester-Feuerwerkskörper, zum
Teil auch durch Schreckschusspistolen.
Der Knall eines Silvester-Böllers kann in einer
tausendstel Sekunde einen lebenslangen Hörschaden verursachen,
den man sich sonst auch durch jahrelange Disco-Besuche nicht
einhandelt.
Interview
mit Dr. med.
Eckhard Hoffmann
Audio
Professional sprach mit Dr. med.
Eckhard Hoffmann, Hörforscher, dem Leiter der AG
Angewandte Hörforschung an der Universität Ulm am ZIBMT
(Zentralinstitut für biomedizinische Technik), über seine
Erkenntnisse.
Audio
Professional:
Hat man einen Überblick, wie sich allgemein das Gehör der
Menschen in industrialisierten Ländern in den zurückliegenden
Jahrzehnten entwickelt hat?
Eckhard
Hoffmann:
Es gibt ja nun noch nicht so lange Hörtests nach den heutigen
Standards. Auf jeden
Fall kann man nicht sagen:
Die Deutschen hören heute schlechter alsvor 50 oder 100
Jahren. In den
6oer-Jahren wurden zum Beispiel Untersuchungen bei den Mabaans
durchgeführt. Dies
ist ein afrikanischer Stamm im Westen des Sudans, der zu dieser
Zeit noch unter Bedingungen der Steinzeit lebte.
Zusammenfassend wurde festgestellt, dass die Eingeborenen
auch kein besseres Hörvermögen hatten als beispielsweise
Deutsche.
In
den letzten fünf Jahren habe ich gemeinsam mit der Arbeitsgruppe
Hörforschung der Universität Gießen Untersuchungsserien mit
Berufsgruppen durchgeführt, die akustisch dauernd stark belastet
sind, und zwar mit Lufthansa-Piloten und Orchester-Musikern.
Sowohl die Mabaans als auch die Piloten und die
Orchestermusiker weisen im Alter von 6o Jahren ein altersgemäßes
Gehör mit einem leichten Hörverlust in den hohen Frequenzen auf.
Der Hörverlust bei 4 kHz, einer in Bezug auf Lärmschäden
besonders empfindlichen Frequenz, betrug bei allen drei Gruppen im
Durchschnitt rund 2o dB HL (Hearing Loss).
Trotz hoher beruflicher Schallbelastung ist die Hörfähigkeit
der Orchestermusiker und Linienpiloten im Durchschnitt auch nach
vielen Berufsjahren noch erstaunlich gut.
Es gibt zum Beispiel auch Untersuchungen an Berufsmusikern,
die in den typischen Klangkörpern der Bundeswehr arbeiten.
Man kann wohl sagen: Diese Leute sind von Berufs wegen ständig
über längere Strecken einem hohen Schalldruck ausgesetzt, da
geht es ja wirklich zur Sache.
Und im Rahmen einer dreizehnjährigen Langzeitstudie
ergeben die Untersuchungen, dass sich die Hörfähigkeit trotz
einer hohen, musikbedingten Schallbelastung nahezu nicht
verschlechtert hat. Es
war nur der normale altersbedingte Hörverlust nachzuweisen.
AP:
Das sind ja wirklich erstaunliche Resultate.
Eckhard
Hoffmann:
Prof. Fleischer von der Arbeitsgruppe Hörforschung der Uni Gießen
ist letztes Jahr nach China gereist und hat dort, in einer
abgelegenen Gegend, in der vorwiegend Reisbauern leben,
Untersuchungen durchgeführt.
Erst seit wenigen Jahren gibt es dort Strom, die Bewohner
kannten also weder Discos noch Maschinenlärm.
Fleischer stellte fest, dass viele der untersuchten
Chinesen ein schlechtes Gehör hatten. Dies konnte ebenfalls auf Knallkörper zurückgeführt
werden, die dort mehrfach im Jahr verschossen werden.
AP:
Egal, wo man hingeht in der Welt Knallgeräusche sind also
eine herausragende Ursache für Hörschäden?
Eckhard
Hoffmann:
Ja, genau. Ähnliche Erkenntnisse konnte zum Beispiel auch bei den
Eskimos gewonnen werden. In
der Regel leben diese ja meist abgelegen von einer
industrialisierten Umgebung, aber sie gehen schon als Jugendliche
mit Gewehren auf die Jagd. Durch
die Gewehr-Schüsse haben dort viele 15- bis 16-Jährige das Gehör
eines sechzigjährigen Menschen.
AP:
Dann hat also eine ruhige Umgebung für die Qualität oder
den Erhalt eines guten Hörvermögens gar keine wirkliche
Bedeutung?
Eckhard
Hoffmann:
Sie ist dafür überhaupt nicht relevant, natürlich aber für ein
Gefühl von Lebensqualität und für das persönliche
Wohlbefinden. In
diesem Zusammenhang: Wenn jemand sich durch Lärm belästigt fühlt,
ist ja auch nicht der messbare Schalldruck das Entscheidende,
sondern die Botschaft, die als Ereignis demjenigen vermittelt
wird. Die Botschaft
von lauter Rap-Musik ist für den einen der Ausdruck seines persönlichen
Lebensgefühls, für den anderen ist es einfach nur Lärm oder
akustischer Müll.
AP:
Man gewinnt den Eindruck, dass es auf den Straßen, in
Verkehrsmitteln und Konzertsälen immer lauter wird.
Haben die Menschen im industrialisierten Europa,
insbesondere hier in Deutschland, mittlerweile so etwas wie eine
heraufgesetzte Hörschwelle?
Eckhard
Hoffmann:
So generell kann man das nicht sagen.
In Deutschland werden immer mehr Hörschäden festgestellt,
was aber auf den allgemeinen Spaß an Böllern zurückzuführen
ist, zumal dieser Spaß zum Beispiel mit Spielzeug-Pistolen oder
Silvester-Knallern - billiger und populärer geworden ist.
AP:
Wie können Audio-Professionals und Musiker ihr Gehör schützen
und pflegen? Eckhard
Hoffmann: Um sich als Profi in der Musikbranche die eigene Hörfähigkeit
und damit auch die Berufsfähigkeit zu erhalten, muss man ganz
bewusst eine Verantwortung für das eigene Gehör übernehmen.
Wer Konzerte besucht, sollte einen Hörschutz dabei haben,
der für Musik geeignet ist.
So besteht immer die Chance, die akustische Umgebung
gewissermaßen selbst zu gestalten und ein guter Gehörschutz schützt
auch vor Knallen. Zu
empfehlen ist auch ein regelmäßiger Hörtest unter guten
Messbedingungen. Hörminderungen können frühzeitig erkannt und Belastungen
durch gezielte Maßnahmen verringert werden.
AP:
Wir bedanken uns für dieses aufschlussreiche Gespräch.
Der
Autor
Der
Autor des Artikels, Martin Hömberg,
kann auf reiche Erfahrungen in der professionellen Studio- und
Musikszene zurückblicken - als Fachautor von Audio Professional
und PRODUCTION PARTNER, Dozent, Musiker, Komponist und Produzent.
Literatur
Hoffrnann,
E. (2001): Sind gesetzliche Regelungen zur Schallpegelbegrenzung
bei Konzertveranstaltungen und für Discotheken notwendig?
Bildungswerk
d. Verbands Deutscher Tonmeister (Hrsg.) Bericht der
Tonmeistertagung (21.) Hannover 2000. K.
G. Saur. München,
S. 533 -547
Hoffmann, E. (1997): Hörfähigkeit und Hörschäden unger
Erwachsener unter Berücksichtigung der Lärmbelastung.
Median, Heidelberg
Internet: Ein dort abrufbarer Artikel
zum
Thema: http://www.widex.ch/de/pdf/hoffmann_de.pdf
Das gesamte Dokument stammt
von „Production Partner“ 3/2002 (Professionelle Studio – und
Bühnentechnik)
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