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Originalberichte.

_________

I.

Karin Michaelis: ,,Das gefährliche Alter" im Lichte der Psychoanalyse.

Von Dr. med. Tatjana Rosenthal.

Vortrag, gehalten in der Sitzung der Berliner Psychoanalytischen Gesellschaft am 5. Januar 1911.

Das Material, das mir vorlag, Frau Elsies Tagebuch, ist eine Selbstanalyse. Ich habe sie verfolgt. Wollte ich aber nach Freud vorgehen, so musste ich Frau Elsies Kindheits - und Jugendgeschichte kennen lernen. Darüber fand ich in dem Tagebuch zwar wichtige Andeutungen, aber nicht genügend Material.

Nun wandte ich mich an die anderen Bücher von Karin Michaelis und siehe da - da fand sich in verschiedenen Varianten und Entwickelungsstadien derselbe Typus. Die verschiedenen Frauengestalten zeitgen überraschende Stereotypien in den wichtigsten psychologischen Eigenschaften.

Wir wissen, dass stereotype Züge in den Gestalten des Dichters oft darauf zurückzuführen sind, dass gewisse unbewusste Notwendigkeiten im seelischen Leben des Künstlers ihn auf diese Züge immer zurückzukommen zwingen.

Die Analyse einer Dichtung ist eng mit der Analyse des Dichters verbunden. Man wird aber nicht ohne weiteres vom Schicksal eines Helden der Dichtung auf dasjenige des Dichters schliessen:das künstlerische Schaffen kann dem Dichter das Ausleben seiner unbewussten seelischen Konflikte ersetzen.

Das künstlerische Schaffen Karin Michaelis ist aber ein einheitliches, und ich fand mich berechtigt, an der Hand der ,,Ergänzungsanamnese"" die individuellen psychologischen Determinanten der Krise Frau Elsies zu suchen.

Die 42 jährige Frau des reichen Fabrikanten Lindtner verlässt nach zwanzigjähriger, glücklicher Ehe ihren Mann, nachdem sie sich von ihm hat scheiden lassen.  ,,An und für sich liegt kein Grund vor, nicht der allergeringste Grund, den man betasten oder befühlen könnte."

,,Ich trete aus einer vollkommen harmonischen und glücklichen Ehe aus,", schreibt sie an ihre Freundin an dem Tage, wo sie ihre Wohnung am alten Markt der Stadt verlässt, um in die einsame weisse Villa zu gehen, die auf einer einsamen Insel gelegen ist. Sie schildert ferner in diesem Brief ihr durchaus glückliches Familienleben und weiss ihr Vorhaben  nur aus der Laune, allein leben zu wollen, zu erklären. Sie muss allein leben: ,,ganz allein, für mich und mit mir selbst"  ,,Nenne es eine absurde Idee, einen unmöglichen Einfall, nenne es Hysterie, was es vielleicht auch ist - ich muss fort von den Menschen, heraus aus dem Ganzen." Der Entschluss, in die Einsamkeit zu gehen, ist aber nicht übereilt, augenblicklich in ihr entstanden. Er ist schon seit einem Jahre in Frau Elsie gereift. So lange hat sie gewartet, teils um sich selbst zu prüfen, teils weil sie nicht in die Ungewissheit gehen konnte. Während dieses Jahres liess sie sich nämlich die weisse Villa aufführen. Diesen Auftrag gab sie einem jungen Architekten Jörgen Malthe, dem aber der zukünftige Inhaber der Villa verheimlicht blieb. In gemeinsamer Arbeit mit Frau Elsie hat er den Entwurf geschaffen, im Glauben, er baue sie für eine geschiedene Freundin Frau Elsies. Der Abschiedsbrief an Malthe beginnt mit der Versicherung: ,,Wir beide sind ja Freunde," lässt aber anderes als nur Freundschaft auf seiten des Architekten erraten. Im Brief an die Freundin sagt Frau Elsie direkt: ,,Jörgen Malthe, der liebe Mensch, hat mich ja, wie ihr alle zu eurem Ergötzen gesehen habt, mit seiner jugendlichen Schwärmerei beehrt."

Ich werde auf den Brief Frau Elsies an Malthe noch zurückkommen; jetzt will ich nur bemerken, dass die ältere Freundin Malthe auf den zwischen den beiden bestehenden Altersunterschied aufmerksam macht. In wenigen Jahren würde er es nicht verstehen, wie es für ihn eine Zeit geben konnte, wo sie ihm  ,,die einzige" war. Es war ihr peinlich, ihm die wahre Bestimmung der Villa zu verheimlichen; sie musste aber schweigen, weil sie Verpflichtungen ihrem Manne gegenüber hatte.  Sie wünscht, Malthe möge sich jetzt, vielleicht mit der Ausnahme eines Lebewohls, schweigend verhalten. ,,Jetzt schliesse ich mich in meiner  ,,weissen Villa" ein und damit ist meine Geschichte aus" - so endet der Brief.

Es bleibt noch der Abschiedsbrief an den "lieben guten Freund und ehemaligen Gatten" übrig. Hier wird ein neuer, ebenso vager Grund für ihren Entschluss angegeben: "Ich eigne mich offenbar nicht dazu, verheiratet zu sein". Ihrem Manne hat sie nichts vorzuwerfen: "Ich wollte wirklich im tiefsten Ernst, dass ich die etwas vorzuwerfen hätte. Aber ich habe dir nichts vorzuwerfen. Nach keiner Richtung hin". Sie gibt nun ihrem Manne allerhand gute Ratschläge, tröstet ihn banal, wie die meisten Frauen in solcher Situation: "Du hast ja das Geschäft und die Freunde", und macht ihm Andeutungen, dass er noch mit einer anderen glücklich werden könne. "Kein anderer Mann hat nur einen Zoll meines Herzens eingenommen" sagt sie zum Schluss. Es  sei ihr selbst unbegreiflich, weshalb ihre Gefühle starben - es ist wahrscheinlich eine Nervenerkrankung, aber leider eine unheilbare.

Das Folgende sind Tagebuchaufzeichnungen und Briefe während eines Jahres in der weissen Villa. Das Jahr vergeht in wechselvollen Stimmungen; einsam bleibt Frau Elsie während dieser Zeit. Ihre einzige Gesellschaft sind das Kammermädchen und die Köchin. Um so mehr vermag sie sich auf eine Selbstanalyse zu konzentrieren. Sie wird nicht nur mit sich selbst fertig; sie ergründet die allgemeinen Ursachen ihres Zustandes - das Problem des Klimateriums -, sie analysiert von diesem Standpunkte aus fremde Schicksale.

Es ist das Tagebuch einer intellektuel hochstehenden Frau, die en feines psychologisches Verständnis hat, deren Bewussteinsbreite das Durchschnittsmass überragt: vieles, was andere Frauen verdrängen würden, läuft bei Frau Elsie bewusst ab. Aber es erweist sich, dass man trotz solcher Eigenschaften von dem eigenen Unbewussten hintergangen wird. Nicht bis zur allerletzten Tiefe dringt Frau Elsie vor. Kein einziges Mal wird der wahre Wunsch genannt, der sie in die  weisse Villa trieb. Noch weniger kann Frau Elsie sich der Ursachen bewusst werden, die eine bestimmte Einstellung ihrer Affekte für das ganze Leben bewirkt haben.

Von den ersten Zeilen des Buches an ist es klar, dass andere Motive als die von Frau Elsie benannten oberflächlichen Gründe sie zum Verlassen des Mannes bewogen haben.

Es ist von vornherein wahrscheinlich, dass Jörgen Malthe hierbei eine Rolle spielen dürfte.

In der Einsamkeit reift nun Frau Elsie Gefühl für Malthe; als das Jahr um ist und die Linden duften, ruft sie ihn, der geschwiegen hat, in leidenschaftlichen Worten.

Malthe kommt, geht aber an demselben Tage wieder. Es ist zu spät; er liebt sie nicht mehr.

Der Einsamkeit ist Frau Elsie nun nicht mehr gewachsen. Während der ganzen Zeit hat sie eine gewaltige Erotik in sich zu unterdrücken gehabt. Malthe ist ihr verloren und sie macht einen verzweifelten Annäherungsversuch an ihren ehemaligen Gatten. Aber es hilft ihr nicht, dass sie sich zu einem schlau berechneten Briefe voll von Lügen und Hinterlist erniedrigt: Lindtener hat sich eben mit einem jungen Mädchen vermählt. Sie schreibt  ihm auf diese Mitteilung hin einen vulgär hohnvollen Brief, in dem der ohnmächtige Zorn allzu durchsichtig ist und geht dann mit ihrem Kammermädchen auf eine Weltreise, um ihre Niederlage in der weissen Villa zu vergessen.

 

II.

 

Die Untersuchung geht am besten von den Beziehungen zu Malthe aus. An der Oberfläche gelegen, sind sie Frau Elsies Selbstanalyse zugänglich; uns aber eröffnet sich von da aus der Einblick in die tieferen Schichten im Seelenleben Frau Elsies. Im Abschiedsbrief sucht sie dem Ton der älteren Freundin treu zu bleiben. Es entschlüpfen ihr aber kleine Geständnisse, die nicht zu einem rein freundschaftlichen Verhältnisse passen. Sie erinnert sich der schönen Stunden, in denen über alles, am meisten aber gar nichts gesprochen wurde. Briefe werden nicht einmal einen Abglanz dieser guten Stunden geben können. <<Ich glaube, wir waren sehr wenig geistreich, wenn wir zusammen waren, und doch langweilten wir uns nie>>.

Auch erfahren wir aus diesem Briefe, dass Frau Elsie ihren jungen Freund in der letzten Zeit mied. Schon am zweiten Tage der Einsamkeit wird eine kleine Erniedrigung an dem Liebesobjekt verübt. Malthe's einziges Geschenk, die Böcklin'sche "Villa am Meer", wird der Köchin für ihre Kellerstube abgegeben. Offenbar versucht damit Frau Elsie sich zu beweisen, wie wenig  ihr Malthe bedeutet. Diese Tendenz muss wohl einem starken, entgegengesetzten, aber verdrängten Affekt das Gleichgewicht halten; denn sie kann nur mit einer brüsken Kraft die Oberhand bekommen. Frau Elsie fühlt das Groteske dieses Sieges, sie schämt sich ihrer Handlung.

Sie erhält verschiedene Briefe, erwartet aber nur einen - Malthe's Brief. Unbewusst hegt sie wohl ganz andere Hoffnungen, wenn sie über das Schweigen ihres jungen Freundes, an dessen Achtung zu zweifeln sie Keine Gründe hat, grübelnd sagt:<<Würdigt er mich keiner Antwort?>>

Nun kommt ein schöner und ruhiger Tag. Sie denkt an Malthe mit einem Gefühl der Freude, weil sie so und nicht anders gehandelt hat. Auf diese Weise erfahren wir von Frau Elsie zum ersten Mal, dass ein Zusammenhang zwischen ihrem Entschluss und dem Verhältnis zu Malthe besteht.

Trotz "des Endes" erwartet sie etwas. Denn da steht plötzlich im Tagebuch: <<Hier sitze ich und warte auf meinen Todfeind. Kommt er herangeschlichen oder werde ich die Stärkere sein?>> Das passt schlecht zur Absicht:<<Ich schliesse mich in meine weisse Villa ein und damit ist meine Geschichte aus>>. Malthes Name verschwindet jetzt von den Seiten des Tagebuchs. Hingegen beschäftigt sich Frau Elsie viel mit Betrachtungen über List und Lüge, Lächeln und Weinen - die Waffen des Weibes dem Manne gegenüber. Sie macht Geständnisse und Enthüllungen über manches, was von Männern schon lange erraten und den Frauen vorgehalten wurde.

Das "zu spät" überwältigt Frau Elsie:<<Das Leben ist an mir vorübergegangen; meine Hände sind leer, jetzt ist es zu spät.

Das Glück pochte an meine Tür und ich Törin, ich tausendfältige Törin, liess es nicht ein.

Ich beneide jede Dirne, die mit ihrem Galan ausser Landes laufen kann, aber ich bleibe sitzen und warte auf das Alter>>.

 

 

 

(to be continued)

 

         

 

 

Last modified:  Aug. 18, 2009

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